Articles

Ausschnitt

Ausschnitt aus: 'Die Werkstatt des Meisters des Göttinger Jacobi-Altars und die westfälische Malerei', Das Hochaltarretabel der St. Jacobi-Kirche in Göttingen, ed. Bernd Carqué and Hedwig Röckelein, 2005.

Der Flügelaltar in der Göttinger Pfarrkirche St. Jacobi ist einer der wenigen großen deutschen Altarretabel, die noch am ursprünglichen Aufstellungsort gottesdienstlich gebraucht werden. Eine Inschrift auf dem Rahmen bezeugt, daß das Werk im Jahre 1402 zum Festtag des heiligen Bischofs Martin, also am 10. November, vollendet wurde. Vermutlich wurde das Retabel zu diesem Zeitpunkt, oder recht bald danach, auf dem Hochaltar im Chorraum der Kirche aufgestellt.

Leider fehlt es uns gänzlich an zeitgenössischen Dokumenten zu dem Altar, und erst in die 1588 veröffentlichen Chronik des Franciscus Lubecus berichtet, daß die Gemeinde und Kirchenvorsteher das Retabel im Jahre 1402 für den neu erbauten Chor in Auftrag gaben. Es ist durchaus möglich, daß diesem Autor trotz des Zeitabstandes noch glaubwürdige Unterlagen zur Verfügung standen, denn er berichtete für das gleiche Jahr auch über die St. Jacobi-Kirche, daß Johannes und Bartold von Waken die päpstliche Genehmigung erhielten, »zur linken eine cappelln zu stiften mit altaren und was sonst darzu gehorig.« Auch spricht der Standort des Altars für einen kommunalen Auftrag, denn der Hochaltar einer Pfarrkirche stand nur in den seltesten Ausnahmefällen für ein individuellen Patronat zur Verfügung. Für die Jacobikirche käme demnach nur die Gemeinde oder eventuell eine Gemeinde-Bruderschaft als Stifter des Retabels in Frage, denn die Pfarrkirche diente nicht als Rats- und Prozessionskirche. Diese Aufgabe erfüllte in Göttingen die Kirche St. Johannis. Wenn das Retabel also eine Gemeindestiftung war, dann dürfte für die in der Widmungsinschrift genannten Heiligen - außer Christus und der Jungfrau Maria sind es Jacobus der Ältere, Christophorus, Eustachius und Johannes der Täufer - ursprünglich ein Pfarr- oder Gemeindezusammenhang bestanden haben.

Aus den Inschriften des Retabels erfahren wir, laut Graf Vitzthum, nicht nur das Datum der Fertigstellung des Werkes. Er bemerkte 1927, daß die »deutschen Unterschriften unter den Jakobusbildern« ein Hinweis darauf seien, daß »der Maler kein Göttinger von Geburt war, sondern aus dem hochdeutschen Sprachgebiet, wahrscheinlich aus Hessen, stammte.« Ein solcher Anhaltspunkt zur Erforschung des unbekannten Malers des Retabels wäre natürlich sehr willkommen. Leider bezeugen aber erhaltene Auftragsurkunden für zeitgenössische Werke, daß im späten Mittelalter sowohl das Bildprogramm als auch etwaige vom Auftraggeber erwünschte Inschriften verträglich genau vorgeschrieben wurden. Auch war nicht unbedingt der Meister der Kalligraph seiner eigenen Werkstatt. Die hochdeutschen Zeilen erlauben uns daher nur zu vermuten, daß der auftraggebende Kirchenvorsteher der Gemeinde oder sein Berater wohl in Hessen aufgewachsen war. Die Inschrift sagt also nichts über den Maler selbst aus.

Der bedauernswerte Mangel an historischem Beweismaterial zwingt daher den Kunsthistoriker, sich vollständig auf das intensive Studium des Werkes selbst zu verlassen, wenn er wenigstens einen kleinen Einblick in die Kunst des Malers, seine Werkstattmethoden und vielleicht sogar seine Schulung erlangen möchte. Seit 1711 ist das Retabel in der Literatur besprochen, die vielfältigen Bemerkungen und oft widersprüchigen Meinungen diverser Autoren sind an anderer Stelle in diesem Buch vorgestellt. Die 600-Jahre-Feier der Vollendung des Jacobi-Altars gibt mir nun Anlaß, und den fast waghalsigen Mut, die Malereien dieses Werkes nochmals eingehend auf ihre Aussagekraft hin zu untersuchen. Dabei fiel mir noch die besondere Aufgabe zu, das Verhältnis des sogenannten Meisters des Göttinger Jacobi-Altars zu der westfälischen Tafelmalerei seiner Zeit zu ergründen.

Zu diesem Zwecke möchte ich zunächst einige Besonderheiten der gemalten Seiten des Wandelaltars herausstellen und dadurch versuchen, wenigstens einen kleinen Einblick in die Werkstatt-Organisation zu gewinnen. Einige technische und stilistische Merkmale der Werkstatt sollen dann im Vergleich mit zeitgenössischen, und besonders auch westfälischen Werken auf mögliche Hinweise zur Herkunft und Schulung des Meisters übereprüft werden. Aus diesen Untersuchungen ergibt sich zum Schluß noch die Frage, ob sich in anderen Werkstätten ein Einfluß unseres Malers nachweisen läßt.

Der doppelflügige Wandelaltar in der St. Jacobi-Kirche zeigt mit geschnitztem Schrein und Innenflügeln sowie Malereien auf den übrigen Seiten der Flügel einen in Norddeutschland damals beliebten Typus, für den der Petri-Altar des Meister Bertram von Minden wohl das bekannteste Beispiel bietet. Die Bilder sind, wie auch im benachbarten Westfalen üblich, auf Eichenholz gemalt. Eine dendrochronologische Untersuchung ergab ein Entstehungs-Datum vermutlich »ab 1395«. Wie lange die Werkstatt an dem aufwendigen Flügelaltar arbeitete, und ob die Skulpturen im Werkstattzusammenhang entstanden sind, bleibt ungewiß, doch der inschriftlich festgehaltenen Vollendungs im Jahr 1402 steht nichts entgegen. Allerdings scheint der Meister der Werkstatt bei der Bemalung der großen Tafeln unter gewissem Zeitdruck gestanden zu haben, denn bei genauerem Betrachten der Bilder zeigt sich, daß nicht alle von seiner eigenen Hand gefertigt sind.

Die Alltagsseite des Retabels erzählt die Geschichte des hl. Jacobus in acht Tafeln, die in zwei übereinander liegenden Reihen angeordnet sind. Der Effekt der illusionistisch gemalten Rahmungen und Trennungen der einzelnen Bildfelder sowie die parallel fliehenden Fliesenböden aller Bilder erzeugen den Eindruck räumlicher Tiefe. Jedoch wird dieser Eindruck sogleich durch flach gemalte rote oder (zu schwarz-grau verfärbte) blaue Hintergründe und eine umrißbetonte Figurendarstellung wieder negiert. Die in schwarzen Linien angelegte Figurenzeichnungen ist meist in gedämpften Tönen und mit nur vereinzelter Farbmodellierung der Gewänder wie ein Holzdruck koloriert,. Die Komposition ist auf die Protagonisten konzentriert und nur in der letzten Szene dominiert die Architektur. Hier spielt die rechts schräg eingesetzte Burg sowie der im linken Hintergrund schräg einfahrende große Leichenwagen mit empirischer Perspektive, die auch durch die räumliche Schattierung der Zugstiere angedeutet ist, aber wiederum negiert wird, weil der Maler den hinteren Turm der Burg vor den oberen gemalten Bildrahmen in den Vordergrund setzte. Solch neckische Raumspiele, die in der zeitgenössischen höfischen Kunst recht beliebt waren, sind auf allen Flügelseiten mehrmals an der Position von Figuren, Draperien und Objekten zu beobachten.

Die Tafeln haben durch partielles Verblassen der Farben und mehrere Restaurierungen etwas gelitten. Vor allem sind die schwarzen Umriß- und Faltenlinien an vielen Stellen zu stark und oft entstellend nachgezogen, in der Predigt-Szene sind Körper und Gewand der vorderen weiblichen Figur wohl durch ein Mißverständnis seltsam entstellt, und in der Boot-Szene ist der Faltenschwung des Gewandes des vorderen Jüngers fehlerhaft restauriert worden, so daß hier die gerundete Doppellinie am Fliesenboden - und damit der Konvex-Effekt des gemalten Rahmens - verlorengeht. Auch haben sich die azuritblauen Hintergründe weitgehend zu einem Schwarzgrau verfärbt.

Trotz aller restauratorischen Eingriffe und einiger Verluste der farbigen Modellierschichten lassen sich noch grundlegende Unterschiede in der Qualität der oberen und unteren Bildreihen erkennen. So sind die Figuren in den oberen vier Bildern schlank und geschmeidig geformt und agieren in plausiblem Verhältnis zueinander. Ihre zarten und empfindsamen Gesichtszüge und die expressive Kraft ihrer elongierten Hände unterstützen die dramatische Erzählung. Das Spiel der Umrißlinien bezeugt eine geschulte Hand. In der unteren Bildreihe sind diese Elemente weniger kunstvoll ausgebildet. Obwohl der Stil der beiden Herodes-Szenen auf der linken Tafel auf den ersten Blick nicht von dem Schema abzuweichen scheint, sind die Figuren doch kräftiger und steifer geformt, ihre Gesichter sind weniger ausdrucksfähig, ihre Hände erscheinen breiter und weniger eloquent, die Anordnung der Figuren sowie das Größenverhältnis sind weniger überzeugend, die expressive Linienzeichnung fehlt. Noch auffälliger ist der stilistische Unterschied in der Boot-Szene der rechten Tafel. Hier sind die Figuren in einem anderen Maßstab angelegt, die Köpfe werden dabei meist größer und mit groberen Gesichtszügen gegeben, die nicht mehr eleganten Hände erscheinen fleischig. Die Farben sind weniger subtil abgestimmt oder vielleicht auch unpassend restauriert. Es läßt sich daher vermuten, aber wegen der vielen Reparaturen nicht mit Sicherheit sagen, daß der Meister der Werkstatt selbst nur die obere Reihe ausgemalt hat und zwei versierten Gesellen die anderen vier Tafeln anvertraute.

In der goldgrundigen mit leuchtenden Farben gemalten sogenannten ›Sonntags-Seite‹ läßt sich dann allerdings Ähnliches beobachten. In den sechzehn Schilderungen des Lebens und Leidens Christi gibt es, trotz der einheitlicher architektonischer Rahmung der einzelnen Bilder durch wuchtige Pfeiler mit vorliegenden Säulen sowie Kasettendecken und Fliesenböden, stilistische Unterschiede, die wiederum an drei Werkstattmitglieder denken lassen.

Die acht mittleren Szenen zeigen die lebhafte und gestenreiche Erzählkunst des Malers der oberen Reihe der Jacobibilder. Die geschmeidigen Körper der Figuren sind schlank und elongiert gebildet, ihre Köpfe klein und die Gesichter empfindsam gestaltet. Sie agieren in klarem Verhältnis zueinander, wenn auch die Figuren nicht immer fest auf dem Boden stehen. Räumliche Tiefe ist durch die gestaffelte Position der Figuren auf dem Fliesenboden, Farbschattierung sowie häufige - wenn auch nicht perspektivische - Verkleinerung der Figuren im Hintergrund angedeutet. Der schimmernde Goldgrund, der die Figuren umspielt, steigert die Illusion räumlicher Tiefe, die dann aber durch eine relativ flache Modellierung der Gewänder und durch subtile Raumspiele in allen Szenen negiert wird. So ist zum Beispiel in der Flucht nach Ägypten der Mantel der Maria nicht nur über dem linken Arm, sondern auch in größeren Teilen der vorderen Seite der Draperien raumschaffend schattiert, wobei eine große Falte die tiefste Verdunkelung aufweist. Im gleichen Bilde ist ein Baum -das einzige Landschaftselement in diesen acht Bildern - tief in den goldenen Hintergrund gepflanzt, obwohl seine Krone sich ganz im Vordergrund vor Figuren und Säulen ausbreitet. Auffällig ist auch die Freude am Detail. Man beachte nur die eleganten Falten der Schleier und Gewänder, die verzierten Säume, die höfisch-modischen Schuhe des Pilatus, die dandyhafte Tracht der Folterer, die Rüstungen, ja selbst den Strick um Christi Hände, oder aber den Humor in der Darstellung des verliebten Esels bei der Flucht nach Ägypten und in derjenigen der lebhaften Tauben auf dem Altartisch. All dies zeugt von den erfinderischen Qualitäten und der Kunstfertigkeit dieses Malers. Selbst die leicht nach rechts fliehenden

Fliesen seiner Fußböden scheinen aus einer besseren Töpferei zu stammen als die der Flügelbilder.

Auf dem linken Flügel - wie übrigens auch auf dem rechten - sind die nach außen fliehenden Fliesen viel größer angelegt und fast rustikal in der Musterung. Dagegen erscheinen die Sockelböden hier eher gemustert als gekachelt. Auch die Fußböden sind im Effekt eher dekorativ als raumschaffend, da die dichten Figurengruppen den Übergang zwischen Boden und Goldgrund meistens verdecken. Gleichzeitig ist das neckische Raumspiel auffälliger betrieben, so stehen zum Beispiel in der Verkündigungszene der Engel und Maria in raumschaffend schattierten Gewändern weit hinter den Pfeilern, während ein großer Engelsflügel vor die Säule und das Betpult reicht und gleich aus der Tafel herauszuschwingen scheint. Sogar die notwendigen Landschaftselemente in der Gethsemane-Szene erheben keinen Anspruch auf Realismus, denn die vier federleichten Bäumchen, wie auch das zeichenhafte Bergchen sind nur dekorative Silhouetten auf dem Goldgrund. Die Figuren stehen zwar in stilistischer Nähe zu denen der zentralen Bilder, doch erscheinen sie kräftiger geformt, mit größeren Köpfen und Händen. Die gerundeten Gestalten sind weniger geschmeidig gebildet, ihre Gewänder scheinen aus schwereren Stoffen gefertigt und sind mit weniger Detailreichtum ausgestattet. Die langen Gewänder mit den oft groß eingerollten Mantelsäumen verstecken fast immer die Füße. Die wechselnden Proportionen der Figuren erlauben dem Maler friesartige Gruppierungen. Den Protagonisten mit ihren nachdenklichen Gesichtern und großen gespreizten Händen fehlt zwar die dramatische Aussagekraft der zentralen Szenen, aber sie bezaubern durch die interessante

Farbmodellierung ihrer Gewänder. Wo der erste Meister mit rot und blau dominierten Farbkontrasten arbeitete - so füttert er zum Beispiel den obligatorisch blauen Mantel der Maria in Weiß und zeigt ihn über einem roten Kleid -, zieht der zweite Maler weichere Farbmodellierung vor. Bei ihm ist das Futter des lichtdurchfluteten blauen Mantelsin blassen olivgrünen und das Kleid in rosa Farbtőnen gehalten. Rosa sowie orangene Töne dominieren seine Palette und seine imaginative Lichtmodellierung gibt zum Beispiel rosa Gewändern einen changierenden Effekt mit verschiedentlich roten, grünen oder blau-grauen Tonabstufungen in den großen Faltenzügen. Selbst die Pforte in der Heimsuchung ist blaßrosa getönt. Auch rote Flächen sind durch die Farbgebung modelliert, so werden die roten Flügel des Verkündigungsengels zur ›Lichtquelle‹ hin zu einem zarten Rosa aufgehellt, während sein rotes Gewand jedoch vom Licht leuchtend orange durchflutet wird. Die vom Hauptmaler zart angegebenen Faltenzüge sind dagegen subtil in leichten Tonabstufungen mit nur seltener Farbmodellierung aufgelichtet. Für den Baldachin in seiner Darstellungs-Szene bevorzugt er Grau.

An der Tempel-Szene auf dem rechten Flűgel scheinen beide Maler gearbeitet zu haben, denn während hier die Gelehrten im Figurenmaßstab eher der Vorgabe des Hauptmalers folgen, entsprechen die Proportionen Marias und des Kindes denen des linken Flügels. Auch weisen in manchen Fällen die Formgebung der Hände sowie die Farbgebung und einige Draperien auf den zweiten Maler. In der oberen Reihe scheint die Tauf-Szene ganz von der Hand des zweiten Malers zu stammen. Dagegen zeigen die beiden Bilder der unteren Reihe des rechten Flügels - Grablegung und Auferstehung - die gleiche Ungeschliffenheit, die in der der Boot-Szene der Außenseite zu beobachten ist und die sich in den großkőpfigen Figuren mit fleischigen Händen ausdrűckt. Auch sind die Architekturelemente hier massiv und dominant gegeben im Gegensatz zur eleganten Ausstattung der anderen Tafeln. Der stark verformte Sarkophag und die massive Draperie des Auferstandenen sind den Entwürfen der beiden anderen Maler fremd - wenn auch der Kopf Christi dem des zweiten Malers nachempfunden ist -, und sie zeigen eher eine gewisse Stilverwandschaft mit den massiven, gefährlich kippenden Pfeilern und Säulen der Rahmungen.

Vitzthum sah schon 1927 gewisse »Unterschiede (...) zwischen den acht inneren Bildern und denen der Außenflügel« im »Maßstab der Figuren« und in einer »leichte(n) Vergröberung der Formensprache auf den Flügeln«, die »ein helleres, weniger fein abgestimmtes Kolorit« aufwiesen. Sie waren ihm aber in seinem langen Aufsatz nur eine Fußnote wert, denn er empfand diese Unterschiede nur als »leichte Abwandlungen eines ganz einheitlichen Stils«, die sich »sehr wohl aus der Entwicklung des Malers erklären« ließen. Er schlug daher vor, daß man die »letzten Bilder auf dem rechten Flügel (…) an den Anfang der Arbeit zu stellen« habe. Es fällt schwer, diese These nachzuvollziehen. Die stilistischen und technischen Unterschiede sind zu gravierend, die lebhafte Erzählkunst des Meisters läßt sich nicht mit dem eher phlegmatischen Temperament des zweiten Malers der Flügelbilder vereinbaren. Außerdem würde wohl kein Meister damals eine solche Tafel zuerst in der unteren Reihe der vier Bilder ausgemalt haben.

Es kommt mir wahrscheinlicher vor, daß die eben diskutierten Unterschiede in bezug auf Stil und Maßstab der Figuren, in der Maltechnik, der Raumkomposition und im erzählerischen Detail darauf hindeuten, daß bei der Herstellung der gemalten Tafeln des Flügelaltars der Göttinger St. Jacobi-Kirche drei Maler tätig waren. Eine solche Arbeitsteilung wäre in einer spätmittelalterlichen Werkstatt keineswegs ungewöhnlich. So sind zum Beispiel der Bielefelder Altar des Berswordt Meisters von 1400 wie auch die sogenannte Lüneburger Goldene Tafel in Hannover, die verschiedentlich zwischen 1418 und 1435 datiert wird, in einer Zusammenarbeit von mehreren Malern nach Entwürfen des Meisters der jeweiligen Werkstatt gefertigt worden. Soweit wir es aus den erhaltenen Statuten norddeutscher Gilden erkennen können, waren dort die Maler-Werkstätten auf wenige Gehilfen beschränkt, denn die Zünfte neigten dazu, den Meistern höchstens zwei Gesellen und ein oder zwei Lehrlinge zu bewilligen. Größere Werkstätten sowie die vereinzelte Zusammenarbeit mehrerer Meistern, lassen sich erst nach 1449 (in Köln) nachweisen. Der Meister der Göttinger Tafeln hat anscheinend einen versierten Gesellen in seiner Werkstatt angestellt. Trotz technischer Unterschiede gelang diesem Maler eine gewisse stilistischen Angleichung an den Meister. Dasselbe strebte vermutlich auch der zweite Geselle an, allerdings weniger erfolgreich.

Für den Göttinger Jacobi-Altar darf man sich die Werkstatt-Organisation vielleicht folgendermassen vorstellen: Der Meister der Werkstatt begann mit der Ausmahlung der Alltagsseiten, vertraute aber, wohl unter vertraglichem Zeitdruck, die weitere Ausmahlung der Außenflügel seinem erprobten Gesellen an, als die geschnitzten inneren Flügel zur Bemalung ihrer Außenseiten zur Verfügung standen. Die zentralen Bilder der ersten Wandlung des Retabels, die später bei besonders festlichen Messefeiern dem Priester direkt vor Augen stehen sollten, reservierte der Meister für seine eigene Kunst. Für die restlichen Bilder konnte der Meister dem führenden Gesellen dann seine Entwurfzeichnungen und das

Werkstattmusterbuch zur Anleitung geben. Vermutlich war es auch die Aufgabe der Werkstatt, die geschnitzten Teile farblich zu fassen.

Natürlich ist es andererseits auch denkbar, daß der Meister während der Herstellung der Tafeln verstarb. Das würde sicherlich den plötzlichen Stilwechsel in der Tempel-Szene und die beachtlichen Unterschiede im Maßstab der Figuren in den Flügelbildern erklären. Für einen solchen Sterbefall war in den Kölner Gilderegeln vorgesehen, daß - mit Einwilligung der Witwe des Meisters - der führende Geselle die Werkstatt weiterleitete. Man darf sicher vermuten, daß eine solche Lösung der Produktionsprobleme auch in anderen Städten recht gebräuchlich war. Wiederum wäre der leitende Geselle dann bemüht gewesen, das Werk im Werkstattstil zu vollenden, auch wenn er sich auch vielleicht etwas mehr Freiheiten in der kűnstlerischen Umsetzung erlaubte. Sollte dies bei unserem Altar der Fall gewesen sein, so könnte die abnehmende Qualität der letzten Bilder sogar durch das Fehlen von Entwurfszeichnungen des Meisters bedingt sein.

Hat sich aber die Werkstatt in Göttingen selbst befunden, muß man beachten, daß es dort weder eine Malergilde noch eine Malerinnung gegeben hat. Trotzdem möchte man annehmen, daß die Werkstatt wie die vonnGilden kontrollierten Betriebe in benachbarten Städten organisiert war, da der zweite Maler eine stilistische Anzugleichung an den Meister anstrebte. Allerdings wäre es in Göttingen offenbar auch möglich, daß zwei unabhängige Maler harmonisch zusammenarbeiteten.

Ulrike Nürnberger veröffentlicht in ihrem Beitrag zu diesem Band die Unterzeichnungen der Bildfelder des Altars. Leider standen mir ihre Ergebnisse nicht mehr rechtzeitig zur Verfügung, so daß ich sie für die Frage nach der Werkstattorganisation nicht auswerten konnte. Sollte der Meister selbst die ganze Produktion überwacht haben, ohne aber alle Bildfelder persönlich zu unterzeichnen, dürfen wir in den Flügeln wohl eine ziemlich einfache Umrißzeichnung mit minimalen Angaben zu den Falten und Details erwarten, denn eine solche Unterzeichnungsmethode weist auf sorgfältiges Kopieren einer fertigen Modellzeichnung der Werkstatt hin. Sollte aber der Geselle die Leitung der Arbeit nach dem Tode seines Meisters ganz übernommen haben (oder die Tafeln in Zusammenarbeit zweier selbständiger Göttinger Meister gemalt worden sein), so könnten die Bilder auf den Flügeln von dem zweiten Maler selbst entworfen worden sein, und die Unterzeichnung dürfte dann eher kreativ und detailliert erscheinen und stilistisch von der des Meisters abweichen.

Es ist jedenfalls festzuhalten, daß wir bei unserer Suche nach Herkunft, Schulung und Einfluß des Meisters des Göttinger Jacobi-Altars die Unterschiede in der Malweise zumindest zweier Künstler berücksichtigen müssen.